„Ich bin gerne Ordensschwester“
Gespräch mit Schwester Marcella über ihr Leben und ihre Arbeit
Sr. Marcella lebt im Mutterhaus der Borromäerinnen und arbeitet im Fachkrankenhaus Kloster Grafschaft als Seelsorgehelferin. Sie begleitet dort auch sterbenskranke Patienten auf ihrem letzten Weg und steht trauernden Angehörigen in der Stunde des Abschieds bei. Sie selbst sagt von sich, dass diese nicht einfache Aufgabe bestimmte Eigenschaften erfordert. Dazu gehöre vor allem ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Verständnis, eine wohlwollende Herzlichkeit und die Fähigkeit mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Sr. Marcella, wie lange sind Sie schon Ordensschwester?
Seit 57 Jahren. Mit 23 Jahren bin ich 1967 ins Kloster Görlitz bei den Borromäerinnen eingetreten und war viele Jahre als Erzieherin in Görlitz, Berlin und Wittichenau tätig.
Beim Eintritt in die Ordensgemeinschaft haben Sie den Namen Schwester Maria MARCELLA angenommen. Wie sind Sie auf den Namen gekommen?
Marcella ist eine italienische Heilige und Patronin der Witwen. Sie war eine Vertraute des großen Kirchenlehrers Hieronymus und ist für mich ein Vorbild. Zudem gefiel mir Marcella am besten von drei Namen, die wir vorschlagen durften.
Die Borromäerinnen mit ihren Wurzeln in Schlesien sind inzwischen eine internationale Gemeinschaft. Woher stammen Sie? Was für einen Beruf haben Sie erlernt?
Meine Familie stammt aus einem kleinen Ort im Sudetenland an der tschechisch-österreichischen Grenze. Ich war das Nesthäkchen in der Familie mit 4 Jungen und 2 Mädchen. Nach dem Krieg sind meine Tante und mein Onkel mit mir als Einjährige in die „Ostdeutsche Besatzungszone“ in den Raum Gera geflohen. Fortan lebte ich bei ihnen. Nach der Schulzeit machte ich eine Ausbildung zur Industriefachverkäuferin und war 4 Jahre in dem Beruf tätig.
Wie sind Sie zu den Borromäerinnen gekommen?
Ich bin zwar ein Kind der DDR aber die Jugendweihe kam für mich nicht infrage. Das war eine heikle Situation, weil ich mit Repressalien rechnen musste. So kam es, dass ich neben meiner beruflichen Tätigkeit bei der Caritas in Cottbus ein Katechetenseminar besuchte, um mich auf ein christliches Leben vorzubereiten. Das war für mich der Auslöser, meine Bestimmung zu finden. Ich verspürte zu diesem Zeitpunkt die Anfänge meiner Berufung. Durch die in Cottbus geknüpften Kontakte kam ich zur Caritas nach Görlitz und fand eine vorübergehende Beschäftigung bei der Familienerholung und im Kindergarten. Schon bald lernte ich die Borromäerinnen kennen. Es war eine intensive und erkenntnisreiche Zeit, die 1967 in den Eintritt der Ordensgemeinschaft mündete. Es folgte das kanonische Jahr, dann 2 Jahre Noviziat, die erste Profess und nach 5 weiteren Jahren 1975 die ewige Prozess. In der Zwischenzeit habe ich bei den Ursulinen (Anm.: Ordensgemeinschaft in Erfurt, seit 1667) die Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin absolviert. (Randnotiz: der spätere Kardinal Meissner von Köln unterrichtete dort Religion) Danach war ich 23 Jahre Erzieherin an verschiedenen Standorten der Borromäerinnen. Damals war die ostdeutsche Provinz Görlitz mit 32 Niederlassungen sehr groß und einflussreich. Für DDR-Verhältnisse bemerkenswert. Offenbar brauchte man das caritative Wirken der Borromäerinnen und duldete die ideologischen Unterschiede. Nach der Wiedervereinigung zog ich 1992 in unsere Niederlassung nach Wipperfürth/NRW und arbeitete in der dortigen Klinik bis 2016 als Funktionsschwester für innere Diagnostik. Zum ersten Mal im Westen zu sein war für mich mental sehr gewöhnungsbedürftig. Viel Zeit darüber nachzudenken hatte ich nicht. 18 Jahre lang betreute ich Firmgruppen und kam neben meiner hauptamtlichen Tätigkeit als Funktionsschwester über die Krankenseelsorge mit Sterbenden und Trauernden in Berührung. Das beschäftigte mich so sehr, dass ich mich für eine Hospizausbildung interessierte. Meine Vorgesetzten unterstützten dieses Vorhaben. Danach sammelte ich in einer privaten, ambulanten Hospizgruppe viele Jahre wertvolle Erfahrungen.
Sie erwähnten kurz ihre Berufung
Ja, innerlich verspürte ich zur Ordensschwester berufen zu sein. Es ist ein Prozess, der im Herzen reift und einige Jahre dauern kann. Zuspruch aus meinem Umfeld hatte ich kaum. Meine Mutter war sogar entschieden dagegen. Und ja, ich bin sehr gerne Ordensschwester, weil ich anderen Menschen in Notsituationen beistehen möchte und mich mit ganzer Kraft auf meine Aufgaben konzentrieren kann.
Ich fühle mich in der Gemeinschaft geborgen und gut behütet. Es fühlt sich gut und richtig an.
Welche Aufgabe haben Sie hier im Krankenhaus?
Erst 2016 kam ich von unserem Konvent in Wipperfürth ins Mutterhaus nach Grafschaft und war zunächst verantwortlich für unsere ehemaligen Gästehäuser St. Johannes und St. Hedwig. Seit 2020 bin ich mit Pfarrer Schulte in der Krankenhausseelsorge tätig.
Ich möchte etwas intensiver auf ihre jetzige Arbeit eingehen. In der heutigen Zeit wird der Tod ja mehr oder weniger verdrängt, obwohl wir alle unausweichlich darauf zusteuern. Der Tod ist fast ein Tabu. Wie ist ihre Sicht darauf?
In vielen Fällen ist das so. Das Thema geht uns alle an, dennoch wird nicht gerne darüber gesprochen. Eine Erklärung ist, dass der Tod etwas Endgültiges ist und man sich damit nicht auseinandersetzen möchte. Es hat auch etwas mit Veränderungen zu tun, die erst einmal niemand will. So neigt man dazu, den Tod und das Sterben einfach auszublenden. Gestorben wird im Krankenhaus. Nur noch selten wird der Tote aufgebahrt. Ich behaupte, dass die meisten, vor allem jüngere Menschen, noch nie einen Toten gesehen oder gar das Sterben miterlebt haben, weil es unangenehm ist. Wir entfernen uns emotional und rational immer mehr vom Tod, obwohl er doch zum Leben gehört, und ständig präsent ist. Das war lange Zeit anders. Der Tod war uns vertraut. Die Eltern nahmen uns mit zum Totenbett oder zum aufgebahrten Leichnam, um uns zu verabschieden. So lernten wir mit dem Tod umzugehen. Ich wünschte mir, dass wir uns wieder auf die alten Gepflogenheiten besinnen und uns mehr Zeit dafür nehmen. Es wäre hilfreich, weil Betroffene dann mit der akuten psychischen Belastung besser umgehen können.
Gibt es, mal abgesehen vom gesundheitlichen Gesamtzustand Anzeichen für den nahenden Tod?
Ja natürlich, bei schwer erkrankten Menschen erkennen wir im Gesicht und im Verhalten, wann es zu Ende geht. Für die Angehörigen und mich als Sterbebegleiterin bleibt dann oft noch genügend Zeit, dem Sterbenden beizustehen. Doch der Tod kann auch unvermittelt und unangekündigt z.B. durch einen Unfall eintreten. Da fallen die Zurückgebliebenen in ein tiefes Loch. Bildlich gesprochen ist das vergleichbar mit einem Wollknäuel, dessen Faden jedes Familienmitglied aufnimmt und so ein Netz gebildet wird, das alle geistig miteinander verbindet. Tritt ein Sterbefall ein, reißt der Faden und im Netz entsteht ein Loch. Die Verbindung ist abgebrochen und es dauert einige Zeit, wenn es überhaupt jemals gelingt, bis das Netz wiederhergestellt ist beziehungsweise der Schmerz verheilt ist.
Wie begleiten Sie einen Sterbenden, wie bereitet man sich auf den Tod vor?
Wenn der Sterbende es wünscht, bekommt er die heilige Kommunion und Pfarrer Schulte spendet das Sakrament der Krankensalbung. Früher bezeichnete man die Krankensalbung fälschlicherweise auch als ‚Letzte Ölung‘. Dem ist aber nicht so. Die Krankensalbung ist kein Sterbesakrament, sondern dient der Stärkung der Kranken und kann wiederholt gespendet werden. Sofern der Sterbende noch ansprechbar ist, vermittele ich Normalität. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass ein ungewöhnlicher Essens- oder Getränkewunsch geäußert wird. Natürlich beten wir auch gemeinsam, so dass der Patient in einem friedlichen ruhigen Umfeld sterben kann.
Der Sterbende ist aber selten das Problem, sondern die Angehörigen. Wenn es gewünscht wird, reden wir. Ich frage nach ihren Bindungen, Erlebnissen, Erinnerungen zu dem Sterbenden, tröste sie und teile meine Erfahrungen mit ihnen. Das hilft.
Ich frage mich, was einen Sterbenden in den letzten Stunden seines Lebens bewegt. Plagen ihn noch irgendwelche Sorgen? Gibt es etwas, was tief auf der Seele lastet und sehr persönlich ist oder sehnt sich der Sterbende die Erlösung herbei? Gibt es so etwas wie eine persönliche Bilanz am Lebensende? Und stellt sich vor diesem Hintergrund ein Sterbender die Frage, was habe ich richtig beziehungsweise was habe ich falsch gemacht?
Eine lange Frage – eine kurze Antwort. In einigen Fällen ist das so. Zumeist sehnt er sich aber nach Erlösung. Im Allgemeinen hat der Sterbende schon lange vor dem Tod alles ‚Irdische‘ geregelt.
Spielt der Glaube an Gott und an einem Leben nach dem Tod heute noch eine Rolle?
Was ist ihre Erfahrung?
Die Religion und der Glaube an ein Leben nach dem Tod sind für sehr viele Menschen wichtig. Das ist ja schließlich auch der Kern unseres Glaubens und erfüllt uns mit Hoffnung, dass es nach dem Tode weitergeht. Dies drückt der bekannte Spruch aus: „Der Tod ist das Tor zum Leben.“ Ich denke aber auch, dass es vielen die Angst vor dem Sterben nimmt. Andererseits gibt es natürlich auch Patienten, die das nicht interessiert, die jeden Beistand ablehnen und alleine sterben wollen.
Zum Ende hin noch eine philosophische Frage:
Sind Nahtodwahrnehmungen ein Hinweis darauf, dass es ein Leben nach dem Tod gibt? Man hört ja hin und wieder von Nahtod-Erfahrungen, in denen der Sterbende sein ganzes Leben in Sekunden noch einmal erlebt und am Ende ein helles Licht auf ihn wartet. Ist das eine realistische Vorstellung, wie die Sterbephase abläuft?
Medizinisch und wissenschaftlich lässt sich das nicht eindeutig belegen, aber Ich denke ja. Es ist eine Grenzerfahrung, die im Unterbewussten stattfindet. Ich habe selbst ähnliches erlebt, als ich nach einer Pilzvergiftung das Bewusstsein verlor und mich in einem traumatischen Erlebnis mit meiner verstorbenen Mutter in einer innigen Umarmung versöhnte. Sie ließ mich spüren, dass ich alles richtig gemacht habe. Seitdem empfinde ich einen tiefen inneren Frieden mit meiner Mutter.
Eine allerletzte persönliche Frage. Für diese hochemotionale Aufgabe braucht man sicher ein großes Herz. Dennoch bleibt immer etwas hängen? Wie gehen Sie damit um?
Nach einem anstrengenden Tag ziehe ich mich in unsere Hauskapelle zurück.
Im Gebet kann ich den Tag mit den oft erschütternden Erlebnissen ‚aufräumen‘. Das befreit mich von der Last und gibt mir Trost. So verschaffe ich mir auch den geistigen Raum für den nächsten Tag mit neuen Herausforderungen. Beim Handarbeiten, wie zum Beispiel dem Scherenschnitt und Häkeln von Hüttenschuhen, übe ich mich in Geduld. Auch mein Humor ist mir wichtig und eine wertvolle Kraftquelle. Er sorgt für Ausgeglichenheit in meinem Alltag.
Vielen Dank Sr. Marcella für dieses ausführliche Gespräch und den persönlichen Einblick in ihr Leben. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Kraft für ihre Arbeit. Die Bedeutung ihres Namen Marcella (die Starke und Kämpferische) gibt es jedenfalls her. Die Menschen brauchen Sie.
Redaktion: Günter Naujoks, Vorstandsmitglied im Freundeskreis der Borromäerinnen Kloster Grafschaft e.V.,
erstellt im August 2024